Jahresbericht 2022


POLITISCHE SITUATION IM LAND
geschrieben von Wilfranck Joseph, übersetzt aus dem Französischen von Karin Stucki
Das Land Haiti wird von einer nicht gewählten Regierung regiert, ohne Parlament, ohne Abgeordnete, ohne Senatoren. Die Lage im Land verschlechtert sich weiter. Bandengewalt, hohe Lebenshaltungskosten, Gesundheitsprobleme, Entführungen usw. gehören zum haitianischen Alltag.

Vor allem die Region rund um die Hauptstadt Port-au-Prince wird von Bandenaktivitäten terrorisiert. Die Gewalt äussert sich in Bandenkämpfen, organisierten Entführungen und weit verbreiteter Kriminalität. Die Polizei muss in gewissen Teilen der Metropolregion machtlos zusehen.

Eine grosse Anzahl Menschen werden durch die Bandenaktivitäten vertrieben. Sie fliehen, um der Gewalt zu entkommen. Sie verlassen ihre Häuser und lassen sich auf öffentlichen Plätzen nieder oder ziehen aufs Land.

Die hohen Lebenshaltungskosten sind ein enormes Problem für die haitianischen Haushalte. Schon nur der Benzinpreis ist im Jahr 2022 in Ouanaminthe auf umgerechnet Fr. 2.50 pro Liter gestiegen, was für einen Grossteil der Bevölkerung kaum mehr bezahlbar ist. In einigen Teilen des Landes gab es Benzinpreise bis
umgerechnet Fr. 5.00 pro Liter. Die Situation ist alarmierend für ein Land mit einer Arbeitslosenquote von über 50% und einem schlechten Wechselkurs für die lokale Währung Gourde. Zudem ist Haiti weitestgehend von Importen abhängig.

Die Bevölkerung wehrt sich gegen die schlechten Lebensbedingungen, wobei ihr zunehmend die grundlegendsten Bedarfsgüter entzogen werden. Zahlreiche Menschen gingen im Verlauf des Jahres 2022 immer wieder auf die Strasse, um ihren Unmut zu äussern. Durch diese Demonstrationen und das Schreckensklima, das die bewaffneten Banden verbreiten, war ein normaler Alltag kaum möglich. Geschäftstätigkeiten wurden behindert und die Schulen konnten unter diesen Umständen nicht wie geplant geöffnet werden.

In Ouanamithe im Nordosten Haitis, dem Standort unseres Projekts, muss die Bevölkerung sich glücklicherweise nicht vor Banden fürchten, die Kidnappings begehen. Es gibt Gruppierungen, die Demonstrationen organisieren, um gegen das politische System und die miserablen Lebensbedingungen zu demonstrieren und kleinere Banden, die jedoch keine grösseren Gewalttaten begehen. Während solcher Unruhen versucht ein Grossteil der Bevölkerung in Ouanaminthe, aus Sicherheitsgründen die Strassen zu meiden.

SCHULBILDUNG
Unser wichtigstes Engagement gilt der Finanzierung der Schulbildung für die 33 Kinder in unserem Projekt. Wieder konnte die Mehrheit unserer Kinder das vergangene Schuljahr Mitte Juni 2022 erfolgreich abschliessen. Sechs Kinder müssen das Schuljahr jedoch wiederholen, da sie die geforderten Leistungen
nicht erbringen konnten.

Ein Junge ist aus dem Projekt ausgeschieden. Er ist mittlerweile 18 Jahre alt und hat sich gegen den Willen seiner Familie dazu entschieden, zu seiner älteren Freundin zu ziehen und die Schulbildung aufzugeben.

Ein weiterer Junge ist momentan nicht mehr Teil unseres Projekts. Er hat bereits zum zweiten Mal hintereinander das Schuljahr nicht bestanden. In diesem Fall finanzieren wir den dritten Versuch zum Bestehen des Schuljahres nicht, sondern fordern die Familie auf, die Schulgebühr selber aufzubringen. Falls er das Schuljahr im Sommer 2023 besteht, wird er wieder ins Projekt eingegliedert und wir zahlen das Schulgeld für die kommenden Schuljahre. Seit Bestehen des Projekts ist es das erste Mal, dass ein Kind das Schuljahr zwei Mal hintereinander nicht bestanden hat.

Endriche, unser Mann vor Ort, hat Anfang September das nötige Schulmaterial bestehend aus Büchern, Heften und Schreibutensilien gekauft. Er hat sich darum gekümmert, für alle Schülerinnen und Schüler die richtige Grösse der Schuluniform und Schuhe zu bestellen. Leider konnten die Kinder und Jugendlichen trotzdem nicht ab September die Schule besuchen.

Die Regierung gab bereits früh bekannt, dass das neue Schuljahr wegen den politischen Unruhen landesweit nicht wie gewohnt Anfang September begonnen werden kann. Offiziell hiess es, dass die Schulen am 3. Oktober ihre Tore öffnen würden. Auch dieser Termin wurde etliche Male verschoben. Schulen, welche ankündigten, sie würden den Unterricht aufnehmen, bekamen Drohungen, worauf sie an der Schliessung festhielten. Kurz vor Weihnachten nahmen schliesslich die ersten Schulen im Land mit mehr als drei Monaten Verspätung ihren Betrieb auf. Die restlichen Schulen öffneten nach den Weihnachtsferien.

Mittlerweile besuchen noch 15 Kinder die Primarstufe an der Schule «Notre Dame de l’Assomption». 17 Jugendliche besuchen den Unterricht an der Oberstufe, verteilt in den drei Collèges «Georges Muller», «Quisqueya» und «Eurêka».

Ein Knabe hat die nationalen Prüfungen nach der 9. Klasse bestanden und ist nun von der «École fondamentale» in die «École secondaire» übergetreten. Sein Ziel ist es in vier Jahren das Abitur / die Maturität zu erreichen. Er besucht die Schule «Jean Paul II».

Die Schulgebühr an der Primarstufe beläuft sich auf US$10 je Kind pro Monat. An der Oberstufe kostet die monatliche Gebühr US$25-$30 pro Schülerin oder Schüler.

UNSERE PROJEKTZIELE
Vorläufig nehmen wir keine neuen Kinder in unser Projekt auf, auch wenn ein Kind ausscheiden sollte. Wir wollen die Kinder, die bisher unsere Unterstützung erhalten haben, möglichst nachhaltig weiterbegleiten. Das bedeutet, wer begabt ist, soll mit unserer Hilfe die „École secondaire“ durchlaufen können. Wer nach
dem 9. Schuljahr die Abschlussprüfung nicht besteht, um die schulische Ausbildung fortzusetzen, soll mit unserer Hilfe ins Berufsleben integriert werden können.

AKTIVITÄTEN IN UNSEREM LOKAL UND AUF DEM SPORTPLATZ
Dieses Jahr war es ungemein wichtig für die Kinder und Jugendlichen unseres Projekts, dass
wir vor Ort ein Lokal haben, dessen Türen stets offen sind. Da die Schulen lange geschlossen
blieben, war unser Lokal ein beliebter Treffpunkt. Vor allem unser Informatikraum ermöglichte es den Kindern trotz den geschlossenen Schulen Lernfortschritte zu erzielen. Unser Volontär Jaccy bot nach wie vor Informatikunterricht an. Die jüngeren Kinder, welche neu in den Unterricht kamen, lernten, wie man mit einem Computer umgeht und wie man die Maus und die Tastatur bedient. Die älteren Kinder mit mehr Erfahrung erweiterten ihre Kenntnisse im Umgang mit den gängigen Office-Programmen Word, Excel und
PowerPoint. Libenson erstellte zum Beispiel ein «Carnet scolaire» seiner Schule mit einer tabellarischen Übersicht über alle Schulfächer, wo er seine Noten eintragen konnte. Elandie kreierte einen Flyer über unser Projekt «New Life Haiti Foundation».

Wir konnten ebenso den Online-Unterricht in den Fächern Französisch und Englisch weiterführen. Die Lektionen sind sehr beliebt bei den Kindern und sie machen gut mit.

Nach den Lektionen beschäftigen sich die Kinder und Jugendlichen gerne und ausgiebig mit YouTube oder anderen Plattformen, auf denen sie Filme schauen oder Musikvideos bestaunen. Endriche muss sie jeweils mehrmals ermahnen, langsam aber sicher den Nachhauseweg anzutreten, damit sie möglichst noch vor der Dunkelheit zuhause sind.

Wir hatten im vergangenen Jahr ein paar Mal mit Internetproblemen zu kämpfen. Während der Unruhen auf den Strassen in Ouanaminthe mit z.B. in Brand gesteckten Reifen etc., wurden die Leitungen beschädigt. Endriche meldete sich jeweils sofort bei den zuständigen Technikern, welche eine wirklich
gute Arbeit leisteten und die Leitungen schnell wieder reparieren konnten.

Einmal klopfte ein Bandenoberhaupt einer Bande der Nachbarschaft, in der sich unser Lokal befindet, an. Er erklärte, dass ein Bandenmitglied medizinische Hilfe benötigt und bat Endriche um umgerechnet 10 Franken. Endriche gab ihm ohne zu zögern das Geld mit der Bitte, dass künftig bei Unruhen auf die Leitungen Rücksicht genommen werden sollte. Mit dieser Vereinbarung war das Bandenoberhaupt einverstanden. Aus Sicherheitsgründen war es besser, dass Endriche auf die Forderung des Mannes
eingegangen ist.

Wir können weiterhin das Volleyballtraining mit unserer Volontärin Wilmène anbieten. Das Training findet nun jeweils am Donnerstagnachmittag auf dem Sportplatz des Collège «Georges Muller» statt. Einige
Kinder unseres Projekts besuchen diese Schule, weshalb wir den Sportplatz kostenlos benutzen dürfen. Wir bezahlen einzig ab und zu ein Trinkgeld an den Wächter der Anlage, der darauf achtgibt, dass die Stangen, an denen das Volleyballnetz befestigt wird, während unserer Abwesenheit nicht gestohlen werden.
Um angemessen ausgerüstet zu sein, kaufen wir den am Training interessierten Kindern ein Sporttenue und Sportschuhe.

Im Frühling nahm das Volleyballteam an einem kleinen Turnier teil und konnte sich mit anderen Mannschaften messen. Das Team erhielt einheitliche weisse Trikots mit einer Rückennummer. Die Spiele fanden an zwei Wochenenden statt. Vor einem Spiel bekamen die Sportlerinnen und Sportler in unserem Lokal einen Teller Spaghetti mit Ei serviert, damit sie nach dem gemeinsamen Essen die Partien gestärkt in Angriff nehmen konnten.

Kurz vor Weihnachten haben wir ein gemeinsames Weihnachtsessen organisiert. Einige Kinder kamen bereits früh genug in unser Lokal, um beim Dekorieren mitzuhelfen. So wurden die Räumlichkeiten weihnachtlich hergerichtet. Das Küchenteam leistete hervorragende Arbeit, so dass ein reichhaltiges Buffet aufgestellt werden konnte. Es hatte Reis, Bohnen, Poulet, Salat und verschiedene Getränke zur Auswahl. Die Kinder und Jugendlichen wirkten zufrieden und genossen sichtlich die gemeinsame Mahlzeit.

SOMMERCAMP 2022
Mit den Jahren sind die Kinder und Jugendlichen des Projekts zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen. Deshalb ist die Vorfreude auf die gemeinsame Woche jeweils besonders gross und sie sind zahlreich zum beliebten Sommercamp erschienen. Dieses Jahr gab es keine neuen T-Shirts, sondern alle nahmen das letztjährige rote T-Shirt mit, das sorgfältig zuhause aufbewahrt worden war.

Sobald die Kinder und Jugendlichen am Morgen früh in unserem Lokal erschienen sind, bekamen sie ein kleines Frühstück. Danach begann unser Leiter Marckenson den Tag jeweils mit einem eigens komponierten Lied, das er zusammen mit allen Kindern und den anderen Volontären sang. Es folgte eine von Marckenson geführte Englischlektion, wobei die mündlichen Sprachkenntnisse geübt und gefestigt wurden.

Nun wurde in kleineren Gruppen geführt von verschiedenen Volontären weitergearbeitet. Sie führten ganz unterschiedliche Aktivitäten in den Bereichen Geografie, Umwelt, Geschichte, Zeichnen, Schreiben und Mathematik durch. Besonders gefreut haben sich die Kinder auf das gemeinsame Filmschauen, die Spiele, das Musikhören, Singen und Tanzen. Zwei Freiwillige, jeweils ein Junge und ein Mädchen bekamen ein Mikrofon und sangen leidenschaftlich zu einem romantischen Lied mit, während die anderen applaudierten. Draussen auf dem Sportplatz gab es Duelle im Sackhüpfen oder zum Beispiel beim Eierlauf. Dabei musste ein Kind einen Löffel, auf welchem ein Ei lag, im Mund transportieren und so eine gewisse Strecke zurücklegen. Wer zuerst im Ziel war und das Ei nicht verloren hatte, ging als Sieger hervor.

Nach den gemeinsam verbrachten Stunden waren alle hungrig und freuten sich auf das gemeinsame Mittagessen bestehend aus Reis, Gemüse und etwas Fleisch. Für die Zubereitung des Mittagessens für insgesamt 45 Personen hatten wir vier Helferinnen. Bereits am Vortag machten sie sich jeweils auf, um auf dem lokalen Markt die Nahrungsmittel einzukaufen. Dieses Unterfangen nimmt meistens einen ganzen Nachmittag in Anspruch. Mit der Suche nach den richtigen Nahrungsmitteln, dem Überprüfen der Produkte, dem Feilschen um Preise vergehen die Stunden schnell. Wir sind froh, dass diese Gruppe von Freiwilligen die Aufgabe des Einkaufens, Kochens und Abwaschens jeweils mit so viel Herzblut und Geduld in Angriff nimmt.

Nach dem Essen standen die Familienbesuche auf dem Programm. Jedes Kind und seine Eltern wurden im Verlauf der Woche von unseren Volontären zuhause besucht. Dies gibt uns jeweils einen Einblick in die familiären Verhältnisse und ermöglicht uns einen Austausch, um allfällige schwierige Familiensituationen
oder gesundheitliche Probleme von Familienmitgliedern zu erkennen

Der letzte Tag des Sommercamps wurde in einer festlichen Atmosphäre gefeiert. Dazu schmückten die Beteiligten das Lokal mit schönen Schleifen und Ballons. Alle Kinder erschienen in ihren schönsten Sonntagskleidern. Die meisten Knaben entschieden sich für einen Anzug und die Mädchen trugen weisse Kleider und wunderschöne Frisuren. Musik, Gesang und Tanz durften wiederum nicht fehlen. Bei einem Schönheitswettbewerb wurde das Mädchen mit der schönsten Kleidung ausgezeichnet. Zudem übten die Kinder unter Anleitung der Leiterinnen und Leiter zu ihrer Kleidung passend vornehm zu essen, indem sie das Messer und die Gabel richtig benutzten und sich den Mund behutsam mit der Serviette abtupften. In Haiti wird die Mahlzeit stets mit einem Löffel oder einer Gabel eingenommen und das Fleisch wird mit den Fingern zum Mund geführt und vom Knochen abgenagt. Die Kinder und Jugendlichen benutzen deshalb in ihrem Alltag kaum je ein Messer beim Essen.

Als Highlight gab es zum Abschluss des Sommercamps ein Buffet, wo sich alle nach Lust und Laune bedienen konnten. Es gab unter anderem Reis, Bohnen, grünen Salat, russischen Salat, Gratin, gebratene Kochbanane und Ziegenfleisch mit Sauce zur Auswahl.

SPENDENEINNAHMEN
Vor sieben Jahren gelang es uns, dieses Hilfsprojekt auf die Beine zu stellen. Seither halten viele grosszügige Spenderinnen und Spender das Projekt am Laufen und stellen damit die Schulbildung dieser Kinder und Jugendlichen sicher. Neben vielen privaten Spenden, erhalten wir momentan jährlich einen grossen Beitrag vom Rotary Club Gstaad-Saanenland.

Zu erwähnen gilt es auch die Theatergruppe der Primarstufe Unterseen, die bereits während mehreren Jahren ihre Kollekte an unser Projekt gespendet hat. Mit einem enormen Einsatz und viel Freude erarbeiteten 45 Kinder im Frühling 2022 die Geschichte „Jim Knopf und die schreckliche Wilde 13“. Mit anspruchsvollen Liedern und grossartigem Theaterspiel erzählten sie die lange Reise durch die Welt der Fantasie. An drei gelungenen Aufführungen durften die Zuschauerinnen und Zuschauer die enormen Leistungen der Kinder und Jugendlichen bewundern.

Nach zwei Jahren coronabedingtem Unterbruch fand im Dezember 2022 wieder die Weihnachtsstimmung in Zweisimmen statt. Wir waren mit einem Stand präsent, an dem wir Elisabeths Vanillegipfel, Godis berühmten Glühwein und unseren Hauspunsch verkauften. Bei der klirrenden Kälte wärmten sich die
Besucherinnen und Besucher gerne mit einem heissen Getränk auf. Nach knapp drei Stunden war unser Glühwein restlos ausverkauft und wir durften uns über eine gefüllte Kasse freuen.

Den oben erwähnten und allen weiteren privaten Spenderinnen und Spendern gilt es, unseren grossen Dank auszusprechen. Diese Unterstützung motiviert uns, weiterhin unser Bestes zu geben, um das aus unserer Sicht gelungene Projekt mit Elan weiterzuführen.